Der geheime Tempel

von Diana Dessler



Dein ganzes Leben zieht in einer Sekunde an dir vorbei.

Die Erinnerungen überfluten dich: du bist Letizia Gandrelli, 35, inzwischen erfolgreiche Autorin subtiler erotischer Romane, die meist im alten Ägypten spielen. Du hast mit 17 begonnen zu schreiben, zunächst Liebesromane, dann Abenteuerromane, dann eine Kombination von beidem, meist in Italien angesiedelt. Bis dir aufgefallen ist, daß Romantik in der Toskana ein allzu verbreiteter Trend war und die Verlage eher an Neuem interessiert waren.

Also hast du dich neu erfunden und sowohl Genre als auch Setting gewechselt: vom relativ harmlosen Liebesroman zu Erotik, von der Gegenwart in die Zeit von Ramses II. Nur dein Pseudonym hast du beibehalten. Was dir einst den Nimbus einer rassigen Italienerin verleihen sollte, steht dir nun etwas im Weg, aber du wolltest den immerhin ein wenig bekannten Namen nicht gegen etwas völlig Unbekanntes eintauschen und von vorn anfangen.

Inhaltlich kann man schon sagen, daß du anfangs einen Nerv bei der - vorwiegend weiblichen - Leserschaft getroffen hast: subtile, oft nur angedeutete Szenen, die viel der Fantasie überließen, voller Symbolik, geheimer Hinweise und vertraulicher Stimmung, das alles in flirrender Wüstenhitze oder angenehmen Oasen, die von satten Farben und mildem Windhauch geprägt waren. Gerade die zarten, vagen und ambivalenten Szenerien und Strukturen, ummantelt von den Härten der Historie, machte für viele den besonderen Reiz der Gandrelli-Romane aus.

Bei Lesungen haben dich einige tatsächlich für eine Italienerin gehalten - immerhin hast du braune Haare und braune Augen - aber das haben viele. Deine letzte Lesung ist allerdings schon einige Zeit her; fünf Bücher waren ziemlich erfolgreich, aber das sechste hatte an Schwung verloren. Die Verkaufszahlen belegten das eindrücklich. Doch der Verlag glaubte an dich und wollte dir mit einer ungewöhnlichen Marketingaktion zu altem Ruhm verhelfen: mit einem Platz in der Haza-Expedition von Professor Niklas Dörrheimer, der Koryphäe des Ägyptologischen Instituts Leipzig. Der Verlag hatte dir auf der Leipziger Buchmesse eröffnet, daß du für ein paar Tage als Gast teilnehmen konntest, wenn du danach einen Artikel darüber schriebst. Die Institutsleitung erhoffte sich dadurch wohl einen Werbeeffekt, aber Dörrheimer selbst hatte dir schnell klargemacht, daß er eine "Fantasieautorin von Erotikgeschichten" für völlig unseriös hielt und den Artikel aufs Schärfste prüfen würde.

Letztendlich hatten sich alle zusammengesetzt, pro forma noch einmal ihr Mißfallen mit der Vereinbarung bekräftigt, sich dann aber darauf geeinigt, daß etwas Publicity für beide Seiten nützlich wäre. Und so flog die Nichtitalienerin mit dem rassigen Namen nach Ägypten, um den Wissenschaftlern im Weg zu stehen, in der Hitze zu leiden und sich generell über die völlig unspektakulären Arbeiten bei der Ausgrabung zu langweilen.

Oh ja, anfangs hatte alles ganz aufregend geklungen: ein möglicher Zugang zu einer weiteren Grabstätte beim Tal der Könige, auf halber Strecke zwischen dem Totentempel der Hatschepsut und dem Grab von Ramses II., dem Pharao, dem du einst so manches Abenteuer angedichtet hattest. Damals hattest du sogar in der Volkshochschule einen Kurs in Hieroglyphen belegt, nicht für den Roman, nur so aus Interesse. Und schnell die Lust verloren, als sich herausstellte, wie kompliziert die Ein-, Zwei- oder Dreikonsonantenzeichen waren, wie wenig man über die Aussprache wußte und daß die meisten entdeckten Inschriften reichlich banal waren, angefangen von langwierigen Preisungen irgendwelcher Herrscher über Warenlisten zu Aufzählungen von Namen und vermeintlichen Heldentaten, die reichlich übertrieben klangen, sowie Siege über Gegenden, von denen man bis heute nicht wußte, wo sie lagen oder überhaupt existiert hatten, wie etwa Punt. Um der Hitze zu entgehen, hattest du dich meist in den Zelten der Forscher aufgehalten, denn im freigelegten Höhlenschacht wollte man dich nicht haben, schon aus versicherungsrechtlichen Gründen, wie es hieß. Aber es war klar, daß man einfach keine Person, die genau Null zu der Ausgrabung beitragen konnte, dort brauchen konnte.

Von da an ging es abwärts. Du hast die Notizen der Forscher überflogen, in der Hoffnung, irgendetwas für deinen Artikel verwenden zu können. Dörrheimer hätte einem Kamel bereitwilliger Auskunft gegeben als dir; allerdings schien er da kaum einen Unterschied zu sehen. Aber wenn der arrogante Mistkerl nicht kooperieren wollte... Papier war geduldig.

Und da stand es. Es ging überhaupt nicht um eine echte Grabstätte, sondern um einen mutmaßlichen Tempel! In einer Höhle? Außerhalb von Luxor? Das kam dir recht unwahrscheinlich vor. Dazu lagen etliche Bücher über altägyptische Religion herum, in denen speziell die Göttin Hathor eine bedeutende Rolle spielte. Von ihr hattest du schon mal gehört, aber sie war deutlich weniger bedeutend als etwa Ra, Isis, Osiris und Horus.

Die ganze Unklarheit, die Distanz zu den Forschern - und erst recht zu den einheimischen Helfern und Arbeitern - zehrte an deinen Nerven. Bis du es nicht mehr ausgehalten hattest und am vorletzten Tag die ganze verfahrene Situation mit einer kühnen Aktion beenden wolltest: einem unangekündigten Besuch der Ausgrabungsstelle. Und zwar dann, wenn dich keiner dort stören würde: nachts. Du würdest mal nicht verjagt werden, statt dessen in Ruhe einige Fotos machen und den Ort auf dich wirken lassen. Das würde dem Artikel nützen und dich gleichzeitig ein wenig für diese nutzlose Woche entschädigen. Echte Touristen hatten nicht weit entfernt ihr klimatisiertes Hotelzimmer in Luxor - Luxus in Luxor, ein schöner Aufhänger übrigens, wenn er nicht so abgegriffen wäre - aber diese Expedition mußte ja ihre Zelte hier vor Ort aufschlagen! Na danke.

Und so bist du in der Dunkelheit hinübergehuscht, leichtfüßig die Wache umgehend, die auf ihrem Smartphone herumtippte, und dann durch den mit Stoffen und Folien abgehängten Eingang. Diese angenehme Kühle! Dann: Taschenlampen-App im Phone aktivieren, Kamera-App ebenfalls.

Selbst ist die Frau! Seit Jahrtausenden waren hier nur ein paar blöde Forscher... und du. Sehr weit reichte das Licht der Leuchtdiode ja nicht. Du bist zwischen Sand und Steinen mehr herumgestolpert als gegangen; Indiana Jones hätte sich an deiner Seite wohl den Hut tief ins Gesicht gezogen und sich dann abgewandt. Und um alles noch zu verschlimmern, bist du auf die saubere Plane in der Mitte des Raumes getreten - ohne darüber nachzudenken, warum es gerade dort so angenehm sandfrei war. Dann hast du es erkannt.

Weil sie ein Loch im Boden abdecken sollte.
Einen Schacht.
Die Plane hatte unter dir nachgegeben, und du bist etliche Meter hinabgestürzt.
Du weißt nicht, wie weit.
Du hast dein nutzloses Phone umklammert, geschrieen und dir den Kopf angestoßen.
Das alles blitzt kurz in deinem Geist auf, während du fällst.
...
Und dann ist die Sekunde vorbei.

Der Aufprall ist weniger schmerzhaft als befürchtet, weil du auf Sand fällst. Es tut trotzdem weh und dir brummt der Schädel. Das Smartphone ist dir aus der Hand gefallen und leuchtet da drüben, halb im Sand steckend, einen Durchgang an, der von alten Ornamenten umrahmt ist; ägyptische Schriftzeichen und Bilder von Personen anscheinend.

Du möchtest erst einmal diesen Raum untersuchen - auf zu 1.
Ein Durchgang? Klingt spannend. Weiter bei 2.
Du willst mit dem Smartphone Hilfe herbeirufen? Weiter bei 3.